- JUBILÄUMSJAHR  2006  IN KALDENKIRCHEN -

Vortrag von Dr. Paul Schrömbges

Tabak- und Zigarrenindustrie

in Kaldenkirchen 

 

II. Teil: Historie

 

1.  Phase: Gründungs- und Aufbauphase 1865-1914

 

 

1.    in der Gründungsphase ging der durchschnittliche Tabakverbrauch aufgrund der Gründerzeitkrise erheblich zurück (1872/73: 2,62 kg/Kopf/Jahr; 1879/80: 0,75 Kg)

dennoch für Kaldenkirchen ein Wachstumsmarkt: Billigzigarren für den wachsenden Markt ‚Ruhrgebiet’

 

2.     zunächst nur kleinere Betriebe mit ca. 20 Arbeitern: Wohnzimmerfabriken

 

3.     1888/1891/1893: Verschärfung der Arbeitsplatzschutzvorschriften -

Beginn des Hauswirtschaftssystems

 

4.     1909: Einführung 40% Wertzoll auf ausländische Tabakimporte „für nicht in der Zigarettenherstellung Verwendung findende Auslandtabake“ – sozialpolitische Einschränkung (Zigaretten billigstes Tabakprodukt)

2. Jahreshälfte 1909: 218 Arbeiter entlassen, Konsolidierung bis 1911

 

 

2.  Phase: Der I. Weltkrieg 1914-1918

 

 

1.     Heereslieferungen: Tabak zentral über „Deutsche Zentrale für Kriegs-lieferungen/Minden“ beschafft, Normvorschriften

 

ansonsten Kriegswirtschaft mit massiver Reduzierung der Tabakeinkäufe;

kurzfristig hohe Arbeitslosigkeit (August: 550, September 380), nach einer ‚Reorganisationsphase’ ab November wieder Vollbeschäftigung; alle Fabriken mit Heereslieferungen betraut

 

2.     25.2.1916: völliger Importstopp für amerikanische und niederländische Tabake aus Kostengründen

stattdessen orientalische Tabak des Kriegsverbündeten Türkei – die nur für die Zigarettenherstellung bzw. Feinschnittproduktion geeignet waren; drastischer Rückgang der Zigarren-Produktion

 

3.     7.8.1916: Kontingentierung der ausländischen Tabake auf dem Stand von Juni/Juli 1916

12.12.1916 Erhöhung der Importzölle

bis 1918: Rückgang der Produktion auf 20% des Jahres 1914, im Kern nur noch Feinschnittproduktion

 

4.     große Armut in Kaldenkirchen

 

 

3.  Phase: Eine Erholungsphase 1918-1924

 

- die Nachkriegszeit: der Anfang vom Ende

- mit kurzfristigen volkswirtschaftlichen Situationsänderungen aufgrund der Änderungen von politischen Rahmenbedingungen

- eine Entwicklung in zwei Teilen: 1919-1924, 1925-1933

 

äußere Kondition:

Nachkriegszeit:    - Inflation für Kriegsschulden 1919

                            - Besetzung bis 1926

                            - das Krisenjahr 1923 mit der riesigen Inflation

- der Börsenkrach 1929 und die Weltwirtschaftskrise 1930/32

                            - Machtübernahme Hitler 1933

                            - Kriegsbeginn 1939

Innere Kondition: Einsetzen der Industrialisierung bzw. Maschinisierung der Tabak- und Zigarrenfabrikation

 

1.     Arbeitslosenzahlen: Dezember 1918: 149 arbeitsl. Tabakarbeiter

Dezember 1919: -

Es muss also eine kurzfristig wirksame massive Konjunkturerholung gegeben haben.

 

2.     Gegeneinander/Miteinander von Reichsregierung und der „Interalliierten Hohen Ausschuß für die Rheinlande“ 1919-1926

Reichsregierung 1918: 8-Std-Tag, Lohnerhöhungen (240%Akkord, 275% Hilfsarbeiter), Tabakkontingentierung, zusätzlicher Goldzoll auf Tabake

Hoher Ausschuß: Einfuhr niederländischer Tabake, Aussetzung der Kontingentierung und des Zusatzzolls

‚antizyklische’ Entwicklung 1919-1924: in Kaldenkirchen aufgrund der Besetzung und der darin begründeten volkswirtschaftlichen Sondermöglichkeiten: Aufschwung

‚antizyklische’ Entwicklung 1925-1930: Konsolidierung im Deutschen Reich, in Kaldenkirchen schlagen die strukturellen Änderungen der Reichsregierung durch: Niedergang

 

-         es gründen sich zahlreiche Familienbetriebe wegen der Kontingentierungsvorschriften

-         zentraler Einkauf und Vertrieb

 

3.     17.1.1920: Manteltarifvertrag für Tabakarbeiter: alter Wunsch der Zentralgewerkschaften, die seit 1918 gestärkt waren

-         höhere deutschlandweite Löhne, die den alten Standortvorteil Kaldenkirchens aushebelten, nämlich ein Niedriglohngebiet zu sein

-         erhebliche Probleme bei der Umsetzung (Entlassungen, Kurzarbeit)

 

4.     3 Neuheiten mit erheblicher negativer Folgewirkung für Kaldenkirchen:

-         1.4.1920: Mehrwertsteuer auf Zigarren (als Luxusartikel) – Zigaretten bevorteilt, neuer Billigmarkt, wie schon im Krieg

-         Kontrollbestimmungen für Heimarbeit

-         Vorkaufspflicht für Steuerbanderolen

führen insgesamt zu einer höheren Belastung der Tabakfabriken, wird (noch) durch billigeren Tabakzufuhr aus Nl. aufgefangen

 

5.     1920 kommen die ersten Entrippmaschinen auf den Markt, 1921 die ersten (fußangetriebenen) Wickelmaschinen – Bevorteilung großer kapitalkräftiger maschinisierter Betriebe

 

6. 1920-1922 wechselnde, z.T. hohe Arbeitslosigkeit in Kaldenkirchen, konjunkturelle Entspannung 1922: Vollbeschäftigung

 

6.     das Jahr 1923: wegen der Weigerung der Reichsregierung, die Kriegskontributionen zu zahlen, Besetzung des Rheinlandes durch französische und belgische Truppen am 11.1.1923

-         Stilllegung der Fabriken im Januar-Februar

-         Tabakversorgung über Niederlande läuft weiter, allerdings Zahlung in Gulden oder Dollar

-         Verbindung zum Ruhrgebiet weitgehend unterbrochen

-         am 15.10.2923: 1.538 Arbeitslose, 3.550 Personen betroffen bei knapp 4.900 Einwohnern

7. im November 1923: Einigung mit den Alliierten, bis Sommer 1924 allmähliche Rückkehr der Situation von 1922

  

4.  Phase: Der Beginn des Niedergangs 1925-1933

 

Das Jahr 1923 und die veränderten Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit bewirkten, dass die Firmen einfach zu wenig Kapital hatten

 

1924-1929 wäre eine Zeit der Konsolidierung gewesen, die man in Kaldenkirchen aufgrund der o.g. Bedingungen nicht nutzen konnte: Manteltarifvertrag, Maschinisierung, Zigarette als neues (billigeres) Massenprodukt

 

 

1925: abermalige Erhöhung des Importzolls auf Rohtabake, enormer Konkurrenzdruck, Reichsregierung verabschiedet zeitgleich ein Notstandsprogramm für arbeitslos werdende Tabakarbeiter

-         Billigwaren (Zigaretten)

-         Änderung des Konsumverhaltens

Montel: „Die Verkaufspreise decken nicht mehr die Herstellungspreise“

 

1928: - 6 Fabriken mit 600 Arbeitern außer Betrieb

-         4 Fabriken mit 300 Arbeitern beschäftigen insgesamt 39

 

1929 Börsenkrach, Zusammenbruch der internationalen Finanzwirtschaft, ab 1930 internationale Wirtschaftskrise

 

1.1.1931 Tabaksteuererhöhung: enorme Absatzkrise

 

1931/32: die verbliebenen 11 Zigarrenfabriken kämpfen ums Überleben

 

 

5.  Phase:  Das aufgeschobene Ende 1933-1945

 

Im Jahre 1933:

-         Gleichschaltung der Tarifpartner

-         Beschränkung und Kontingentierung der Tabakimporte

-         Wiedereinführung der Verkaufsmöglichkeit von Tabakerzeugnissen unter Steuerpreiszeichen

-         Einführung des Maschinenverbotes für Zigarrefabrikation (für die Stilllegung von Maschinen wurde Sonderentschädigung gezahlt)

-         Neugründung von Zigarrenfirmen war de facto nicht möglich (Kontingentierung)

-         Einführung einer gestaffelten Banderolensteuer, die für kleinere und mittlere Unternehmen die Rückzahlung der Banderolensteuer bei Nichtverkauf ermöglichte

 

Im Grunde: „Wirtschaften unter der Käseglocke“

-         Aufhebung des Wettbewerbs

-         Reduzierung des unternehmerischen Risikos

-         Arbeitsplatzbeschaffung prioritär

-         Einführung einer Staatsbewirtschaftung - einziges Risiko war das Käuferverhalten

-         Stabilität auf niedrigem Niveau

 Dr. Pauw: skizzierte den Beschäftigungsumfang 1936:

1925: 675

1935: 235, 2 Mittelbetriebe, 7 Kleinbetriebe

1936: 98

Hauptproblem in den 30er Jahren: Absatzprobleme aufgrund der enormen Armut

 

1939: Zusatzsteuer auf privaten Tabakkonsum, Rauchtabake bevorzugt, weniger Zigarren

 

1944: Arbeitseinschränkungen, November Evakuierung

Fa. Kraayvanger Zigarrenproduktion in Aschersleben bis 1947

 

 

6. Phase: Ende und Nachklang 1945-1972

 

1945: Kontingentierung der Tabakwirtschaft durch engl. Besatzung

1946: Wiederbeginn der Tabakverarbeitung in Kaldenkirchen: im Rheinland gab es zentrale Sammelstellen für Rohtabake und Fertigprodukte

1948: amerikanische Tabake verfügbar, Währungsreform, Steuersenkung auf Importtabake

1949 bestes Nachkriegswirtschaftsjahr für , erste Produktionsmaschinen bei Kreykamp und Kraayvanger

1950/1951: neue Staffelsteuer für kleine Firmen günstig, gegen große maschinisierte Firmen (arbeitsmarktpolitische Gründe)

 

Nach dem Krieg: definitive Trendwende zur Zigarette

1951 nur noch Kreykamp und Kraayvanger

1956 „Verordnung über einmalige zusätzliche Steuererleichterungen zur Bereinigung der Tabakindustrie“ (Bestreitung der Liquidationskosten Firmenneugründung bevorteilt) – danach keine Tabak- und Zigarrenfirma mehr da

 

Ein Nachklang:

1959-1972: niederländische Firma Karel I,

1970 Einstellung der Produktion,

1972 Verlagerung des Verkaufsbüros in die Nl.: EU-Opfer

Ende der Kaldenkirchener Tabak- und Zigarrenindustrie

 

 

Was bleibt ?

 Tabak- und Zigarrenindustrie hat unsere Heimatstadt geprägt, bis heute:

 

·        enormer Wohlstandsschub 2. Hälfte 19. Jahrhundert für verarmte Kleinstädter

·        enorme infrastrukturelle Verbesserung Kaldenkirchens: Strom, Telefon, Hausbauten (große und kleine), Kanalisierung, Schule, Kirche, Krankenhaus

·        soziales und politisches Selbstbewusstsein

 

im Alltag, im Kopf und auf der Straße eine grundlegende Veränderung der kleinen Stadt und ihrer Einwohner

 

heute:

·        Tabakskollegium

·        Zigarrenmacher-Denkmal neben der Kirche

·        und viel Erinnerung, ein bisschen sentimental, gar nicht schlimm

 

 

 

 

 

 

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